Wie so oft stand ich hier am Strand und starrte einfach auf das Meer hinaus. Auch wenn der schicksalhafte Tag fünf Jahre zurück lag... es waren nun fünf ganze Jahre, seit Runa und ich ins Camp gekommen waren und Leon sein Leben für mich gelassen hatte. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sich alles verändern würde. Dass alles besser werden würde. Dass ich mich mit Runa irgendwann vertragen und mich ihr wenigstens ein bisschen annähern konnte, nachdem wir doch einiges gemeinsam hatten durchstehen müssen. Doch seit diesem Tag hasste sie mich. Das konnte ich ihr nicht verübeln, denn auch wenn ich es abstritt, war mir vollkommen klar, dass sie recht hatte. Ich war schuld daran, dass Leon gestorben und wir uns ohne ihn hatten ins Camp retten müssen. Nachdem ich von Kindesbeinen an trainiert worden war, war ich gegenüber Monstern noch nutzloser als ein Löffel, um ein Stück Fleisch zu schneiden. Es tat weh. Und allen voran schämte ich mich für meine Angst, die mich immer wieder ergriff, wenn ich einem Monster gegenüber stand. Es war nicht so, dass ich mich nicht wehren könnte, durch meine Mutter war ich dazu sehr gut in der Lage - durch Enyo hatte ich viele Fähigkeiten, die im Kampf hilfreich waren - und doch war ich unfähig, zu kämpfen. Ich wusste genau, dass sich meine Eltern schämen würden, weil ich so... so verkommen war. Vermutlich würden sie mich sogar, wenn sie konnten, verstoßen. Ob es Enyo bereute, mich als ihren Sohn offen anerkannt zu haben? Durch den Pakt war sie dazu verpflichtet, aber... Ich hasse mich selbst dafür, so schwach zu sein.
Auch wenn ich bereits sehr lange im Camp war und damit praktisch wie ein alter Hase sein dürfte, hatte ich nicht viele Sozialkontakte geknüpft oder viele Freunde gefunden. Viel mehr hatte ich meine Probleme mit mir selbst ausgemacht, war immer allein. Zudem, wer wusste schon, wann der nächste Trigger kam? Wenn ich eine Panikattacke erlitt, konnte ich mich hinterher nie daran erinnern, was ich in dieser Zeit gemacht hatte. Niemand konnte mir garantieren, dass ich nicht irgendwann jemand aus dem Camp angriff, verletzte oder gar tötete, wenn ich eine dieser Panikattacken hatte. Dann hätte ich mit noch mehr Schuld zu leben und das konnte ich nun wirklich nicht ertragen. Allein der Gedanke machte mich fertig. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich andere meistens mied. Schließlich war ich nicht einmal in der Lage, mich selbst zu lieben, ich hasste mich selbst. Wie sollte ich dann auf andere zugehen? Ich presste meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und rieb mir kurz meine Augen, um die Tränen hinfort zu reiben, und meine braunen Irden richteten sich danach wieder auf das Meer. Mutter... wenn du mich hörst, ich versuche es. Aber... ich kann es nicht. Ich habe meinen Mut verloren.

Ich trug meinen schwarzen Bikini und darüber eine offene, dunkle Bluse, während ich mir ein schwarzes Tuch locker um die Hüften gebunden hatte, als ich mich auf dem Weg zum Strand machte. Es war ein schöner Tag, da zog ich mich gerne luftig an, auch wenn sich dadurch an der Blässe meiner Haut nichts änderte, durch die die Schatten unter meinen Augen leider noch deutlicher zu sehen waren. Ich wollte zum Strand, um auszutesten, ob sich meine Magie auf Salzwasser anders auswirkte als auf Süßwasser, wenn ich meine Sprüche darauf wirkte, und mir außerdem für das Tränkebrauen ein paar Phiolen mitnehmen, weswegen ich auch eine kleine Umhängetasche bei mir hatte, in der es leise klirrte. Das war allerdings nicht der einzige Grund, wieso ich meine Freunde am See zurückgelassen hatte. Ich wollte auch den neugierigen Fragen entkommen, mit denen ich belagert wurde, seit Fia im Camp angekommen war. Jeder, der mich kannte, wusste, dass ich jahrelang nichts anders gewollt hatte, als sie zu finden. Jetzt war sie hier, und auch, wenn wir anfänglich viel Zeit miteinander verbracht hatten, war es jetzt... seltsam. Wir gingen uns aus dem Weg. Das bekamen die anderen in unserer Hütte natürlich mit, und sie verstanden es nicht. Ich ja eigentlich auch nicht. Weswegen ich mich erst recht nicht anderen gegenüber erklären wollte, und deswegen momentan lieber alleine blieb.
Was das anging, machte mir das Schicksal - oder irgendein launischer Gott - allerdings einen Strich durch die Rechnung. Yawarakai war am Strand. Ausgerechnet. An meiner Abneigung ihm gegenüber hatte sich nichts, aber auch absolut gar nichts, geändert, nur weil Fia jetzt heil und munter im Camp war. Das änderte nichts an Leons Tod, nichts an der Tatsache, dass meine Schwester jahrelang verschollen gewesen war, während ich im Camp saß und nicht gehen durfte, weil ich laut Chiron zu instabil dafür sei. Und wessen Schuld war das alles? Allein Yawarakais! Und um alles noch schlimmer zu machen, hatte er sich zu einem ausgesprochenen Feigling entwickelt, der nur am rumheulen war, was ich wirklich nicht ausstehen konnte. "Hey, Angsthase!", rief ich ihm schon von weitem zu und schritt direkt auf ihn zu. "Bist du wieder am heulen?" Zumindest blies Yawarakai ständig Trübsinn, weswegen meine Vermutung nicht weit hergeholt war, und ich hatte somit einen weiteren Grund, Yawarakai meine Verachtung spüren zu lassen.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als jemand mich mit Angsthase ansprach, und ballte die Händen zu Fäusten. Sie war mittlerweile die Einzige, mit der die Begegnung immerzu unangenehm war. Egal wann, wie und wo, sie ließ mich spüren, dass sie mich hasste, sie wütend auf mich war. Doch das war nicht einmal das Schlimmste, denn das Schlimmste war, dass sie recht hatte. Dass ich verstehen konnte, warum sie mich hasste. Denn dafür hasste ich mich selbst mehr, als sie es sich vorstellen könnte. Auch wenn ich es nicht zeigte und es gut verbarg, ich wusste genau, dass ich schuld an allem war. Leon hätte nicht sterben müssen, wenn ich nicht in dem Moment, als es darauf angekommen war, so ein schwächlicher Feigling gewesen wäre. Nach dem Vorfall und unserer Ankunft im Camp hatte ich versucht, Frieden zu schließen, es mehr oder weniger wieder gut zu machen, auch wenn ich genau wusste, dass das nicht wieder gut zu machen war, doch sie hatte mich bei jeder Gelegenheit spüren lassen, was für Abschaum ich für sie doch war. Manchmal fragte ich mich, warum sie mir nicht einfach ins Gesicht sagte, dass lieber ich an Leons Stelle hätte sterben sollen, und manchmal glaubte ich das sogar selbst. Ich war eine Schande für meine Mutter Enyo.
"Ich bin nicht am Heulen! Ich denke nach!", fauchte ich aufgebracht, denn es nervte mich, dass sie immer darauf herum ritt und jetzt von mir dachte, ich wäre nichts mehr als eine Heulsuse. Zugegeben, ich hatte in der Gefahr eigentlich nur noch Angst. Die Tränen schossen mir schneller in die Augen, als mir lieb war. Nichts an mir war stark oder siegreich. Aber das... War zu viel. "Vielleicht hatte ich gehofft, hier mal ein paar Minuten Ruhe von dir zu haben", feuerte ich zurück, denn nur weil ich lange Zeit versucht hatte, mich mit ihr gut zu stellen, bedeutete es nicht, dass ich mich von ihr immer herum schubsen ließ. Dennoch weckte das unangenehme Erinnerungen, bei denen ich schon seit fünf Jahren versuchte, sie einfach zu vergessen. Es hinter mir zu lassen. Aber das war gar nicht so einfach, wenn diese Schlange hier mich jeden Tag daran erinnerte und spüren ließ, wie scheiße ich doch war. Ich wollte auch nur Frieden schließen, es hinter mir lassen und ein wertvoller Teil des Camps sein. Doch immer, wenn es drauf an kam, machte ich mir vor Angst gefühlt in die Hose. Niemand wollte mit mir in einem Team sein, allein schon bei "Capture the flag", weil ich so ein Angsthase war und nichts vollbringen konnte, wenn es wichtig war. Und dafür hasste ich mich selbst am Meisten. Nein, ich darf jetzt nicht an die Monster denken. Kontrolliere dich. Denk an was anderes, das Meer rauscht so schön. Bewusst versuchte ich, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. "Warum können wir nicht endlich Frieden schließen?", platzte es aus mir heraus, doch es klang mehr wie ein Flehen, statt wie eine wirkliche Frage.

"Das ist ja ganz was Neues, ich wusste gar nicht, dass in deinem Gehirn überhaupt etwas drin ist", entgegnete ich mindestens genauso feurig wie Yawarakai, auch wenn mir seine Reaktion insgeheim eine tiefe Genugtuung verschaffte. Sie gab mir nämlich eine ideale Vorlage, weiter auf ihm herumzuhacken, und gerade in meiner aktuellen aufgebrachten Gefühlslage hatte das etwas beruhigend Vertrautes. Außerdem konnte ich so meinen ganzen Frust und meine Wut an genau der richtigen Person auslassen. "Du hättest deine Ruhe vor mir, wenn du ein für allemal verschwinden würdest", fuhr ich deswegen fort und legte dann mit einem Schnauben den Kopf in den Nacken, als wäre mir gerade etwas eingefallen. "Ach, richtig, geht ja nicht, dafür bist du ein zu großer Feigling." Es war wirklich schwer zu glauben, dass Yawarakai der Sohn von Enyo war, so ängstlich, wie er sich immer zeigte. Dass er sich deswegen schämte, war jedoch offensichtlich, und bot mir damit eine weitere Möglichkeit, auf ihm herumzuhacken. Sein ziemlich jämmerliches Flehen entlockte mir deswegen auch nur ein verächtliches Schnauben. "Warum? Das weißt du selbst nur zu gut", erinnerte ich ihn. "Außerdem hast du bisher nichts gezeigt, was mich irgendwie dazu bringen könnte, dir zu verzeihen. Was machst du denn aus deinem Leben, dass du nur dank Leons Tod behalten hast, hmm? Du stehst hier herum und bemitleidest dich selbst."

"Verdammte Scheiße!", fluchte ich und schob mein Handy wieder in die Tasche. Heute war mein erster Arbeitstag bei diesem verdammten Pizzalieferant gewesen, und prompt hatte ich mich vollkommen verfahren. Eigentlich hatte ich dann einfach mit dem Handy checken wollen, wo ich mich eigentlich befand, immerhin gab es aus diesen Gründen Google Maps, doch mein tolles Handy hatte sich entschieden, ausgerechnet hier den Geist aufzugeben und keinen Empfang haben zu wollen. Der Strand, der vor mir lag, war lang, weit und groß. Weit und breit konnte ich hier niemanden sehen und ich war mir sicher, dass ich hier für die Pizza nicht hin fahren hätte sollen. Mit einem genervten Seufzer saß ich von dem kleinen Elektroroller ab, den mir der Pizzadienst bereit gestellt hatte, und setzte auch den Helm ab. Manchmal fragte ich mich, was ich eigentlich verbrochen hatte, um Pech wie dieses zu verdienen. Reichte es etwa nicht aus, dass meine Eltern mich im Stich gelassen hatten? Das war doch schon mehr als genug Pech in meinem Leben, ganz zu schweigen davon, dass ich sie nicht einmal finden konnte. Die ganzen Pflegefamilien... leicht schüttelte ich den Kopf. Ich hab gedacht... nein, ich hatte gehofft, es würde endlich einmal besser laufen. Zumindest jetzt, als ich das alles endlich selbst in der Hand hatte. Grummelnd sah ich auf das Meer hinaus und seufzte erneut. Das Rauschen des Meeres gefiel mir und beruhigte mich - zumindest ein kleines Bisschen. Wenn ich die Pizza nicht mehr oder weniger pünktlich ausgeliefert bekomme, kann ich den Job vergessen... vielleicht finde ich hier jemand, den ich nach dem Weg fragen kann. Damit nahm ich die Isoliertasche mit den Pizzen in die Hand und setzte mich wenig später in Bewegung, um den Strand entlang zu stapfen und zu schauen, ob ich jemand finden konnte, den ich zumindest nach dem Weg fragen könnte.

Wie so oft streifte ich bereits seit mehreren Stunden durch die Gegend, und meine Schritte hatten mich schließlich aus dem Wald heraus und an den Strand geführt. Dort war es relativ ruhig, nur Runa stritt sich mal wieder mit Yawarakai, und ich ging den beiden weitläufig aus dem Weg. Ich war bereits ein Stück gegangen, als ich ein lautes Fluchen hörte. Vorsichtig kam ich näher, denn vielleicht konnte jemand Hilfe gebrauchen, vielleicht war meine Gegenwart aber auch unerwünscht. Die Person, die ich sah, verwirrte mich jedoch gründlich. Ein junger Mann kam mir entgegen und sah sich dabei suchend um, und ein Stück hinter ihm befand sich ein Motorroller, mit dem er wohl angekommen war und der in dieser Umgebung absolut fremd wirkte. Zu allem Überfluss trug er eine Pizzaboten-Uniform. Er sah durch und durch aus wie ein Sterblicher, der sich hierher verirrt hatte, doch eigentlich war das unmöglich, denn er befand sich bereits innerhalb der Grenzen des Camps. "Ähm... Entschuldigung, kann ich dir helfen?", sprach ich ihn vorsichtig an, nicht sicher, was ich von dem Ganzen halten sollte.

Voller Ärger und Frust darüber, dass ich mich an den Arsch der Welt verirrt hatte, denn ich hätte sicher nicht zu einem Strand fahren sollen, bemerkte ich kaum die junge Frau (Mara), die sich in der Nähe befand. Erst etwas später fiel sie mir auf, und schon bald wurde ich auch von ihr angesprochen. Für einen Augenblick fehlten mir die Worte. Sie war vielleicht in meinem Alter, ob etwas jünger oder älter konnte ich nicht sagen, allerdings ging ich eher davon aus, dass sie jünger war, denn sie sah für mich sehr jung aus. Sie hatte lockige, dunkelbraune Haare und einen dunklen Teint, doch was mir am Meisten auffiel, war, dass sich unter die salzige Meeresluft der Duft von Jasminblüten mischte. Dadurch, dass ich gern in der Natur war, hatte ich dadurch eine recht feine Nase und konnte den Duft von Blumen ein wenig unterscheiden. Doch das tat jetzt nichts zur Sache, leicht schüttelte ich den Kopf. Das bilde ich mir bestimmt sowieso nur ein. Es musste wohl eine Ewigkeit dauern, bis ich darauf kam, die Frage zu beantworten, die sie mir gestellt hatte. Erst einmal schluckte ich, um meinen Ärger ein wenig runter zu schlucken, denn immerhin war ich selbst schuld daran, dass ich mich verfahren hatte. Mit einer Hand fuhr ich durch meine schwarzen, verwuschelten Haare und atmete tief durch. "Ähm ja... ich sollte eigentlich eine Pizza abliefern, aber irgendwie hab ich mich total verfahren und bin an diesem Strand gelandet", entgegnete ich, bemüht ruhig und versuchte dann auch, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Dennoch konnte ich nicht ganz verbergen, dass doch etwas mein Ärger in der Antwort mitschwang. Wenn sie schon so nett fragte, sollte ich immerhin selbst auch nett sein... Hier ist gefühlt gerade niemand, ich habe nicht erwartet, gerade jetzt hier jemanden zu treffen. Aber vielleicht hat sie ein Handy dabei und Empfang... dann kann ich zumindest meinen Chef anrufen... "Hast du vielleicht ein Handy dabei? Ich hab hier kein Empfang und mein Boss wird mich schmeißen, wenn ich mich nicht zumindest melde...", fügte ich wenig später hinzu. Allein das hier konnte jetzt meine ganzen Pläne, selbstständig und von keiner Pflegefamilie mehr abhängig zu sein, gefährden. Mir war allein dadurch schlecht und es schnürte mir den Hals zu. Ich wollte nicht auf der Straße leben oder zu irgendeiner Pflegefamilie zurück, bei der ich nur geduldet war.

Ich war so abgelenkt von der Uniform und dem plötzlichen Erscheinen des jungen Mannes, den ich auf ein paar Jahre älter schätzte, dass ich ihn erst jetzt, wo ich direkt vor ihm stand und auf seine Antwort wartete, genauer musterte. Was vielleicht besser so war, denn sonst hätte ich ihn wohl eher nicht angesprochen. Er sah ziemlich nach Ärger aus, seine Augen wirkten schon beinahe unheimlich düster, und selbst sein Lächeln machte das nicht viel besser. Er sah zwar ziemlich gut aus, aber er war eindeutig ein Typ Mensch, von dem ich mich normalerweise fern halten würde. Doch dafür war es jetzt zu spät, und er schien sich ja Mühe zu geben, nett zu sein, also würde ich das auch tun. Seine Erklärung, was er hier machte, war irgendwie naheliegend, wenn man die Umstände bedachte, und dennoch ganz und gar aberwitzig. Und spätestens bei seiner Frage wandelte sich mein Jasminduft deutlich zu dem von Freesien vor lauter Überraschung. "Ein Handy? Ähm..." Kein Halbgott hatte jemals ein Handy bei sich, das machte nur die Monster aufmerksam. Ich überlegte hin und her, was ich jetzt tun sollte. Ihn wieder hinausführen? Ihn zu Chiron bringen? Er konnte ja eigentlich nur ein Halbgott sein, oder? Oder ein Gott, aber danach sah er wirklich nicht aus. Ich beschloss, dass Chiron wirklich die beste Wahl war, der würde schon wissen, was zu tun war. Und auf dem Weg dorthin konnte ich vielleicht etwas mehr herausfinden. "Also, ein Handy habe ich leider nicht", sagte ich, nachdem ich dank meiner Überlegungen selbst etwas länger geschwiegen hatte. "Aber ganz in der Nähe von hier gibt es ein Sommercamp, und im Haupthaus haben sie ein Telefon, das darfst du bestimmt benutzen. Also, wenn du einverstanden bist, mitzukommen."

Es ärgerte mich ein wenig, dass sie offenbar auch kein Handy hatte, doch dass es hier ein Sommercamp gab, hatte ich nicht erwartet. So sah ich eindeutig überrascht aus, doch zeitgleich mischte sich nun ein anderer Geruch unter den des Meeres. Dieses Mal waren es Freesien, statt Jasminblüten. Zudem fiel mir ebenso auf, dass sie selbst ein wenig zum Antworten brauchte, gleichzeitig aber wunderte ich mich, dass sie so frei und ungezwungen mit mir redete, weil ich eigentlich sehr nach Ärger aussah. Doch ich ging davon aus, dass ich einmal in meinem Leben Glück hatte, und zwar allein darin, dass es definitiv ein Telefon gab. Zum Haupthaus zu gehen hörte sich gar nicht schlecht an, auch wenn ich daran dachte, dass das wohl noch mehr Zeit in Anspruch nahm. Doch die Pizzen würde ich nie und nimmer noch pünktlich ausliefern können. Und am ersten Tag hab ich es gleich vermasselt... besser kann es echt nicht laufen. "Hier gibt es ein Sommercamp? Ich hab noch nie davon gehört, dass es hier in der Umgebung ein Sommercamp geben soll", gestand ich, das erschien mir dann doch ein wenig seltsam. Allerdings war ich auch noch nicht lange in der Umgebung hier, weshalb ich beschloss, dass das gut sein konnte, und ich damit auch gleich mal die Chance nutzen konnte, mir dieses Sommercamp anzusehen. Aber was, wenn das eine Falle ist? Wenn sie mich nur in eine Falle locken will und irgendwas plant? Nachdenklich legte ich den Kopf zur Seite, das war auch eine Sache, die lieber bedacht werden sollte. Andererseits war die Frage, was war mir wichtiger? Beides war mies, doch gleichzeitig bestand die Chance, dass sie die Wahrheit sagte, mir helfen wollte und dass es wirklich das Telefon gab. Das verursachte einen inneren Konflikt, denn es fühlte sich nicht gut an und es fiel mir schwer, ihr einfach zu vertrauen. Einen Moment stand ich einfach nur da, sah sie an, und überlegte. Sie sieht eigentlich nett aus. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie irgendwie eine Falle stellen will. Gleichzeitig aber ist es seltsam, dass sie zufällig genau hier ist. Und meistens sind es die, die am Nettesten aussehen, am Ende die fiesesten Schlangen... Aber ich brauche ein Telefon und die Möglichkeit, meinen Chef zumindest anzurufen. Ich muss darauf eingehen, wenn es sich als Fehler raus stellt, finde ich schon irgendeinen Weg, um mich da wieder raus zu winden. "Sehr gerne, danke. Dann kann ich mir auch mal das Sommercamp ein wenig ansehen. Das hat mich schon ein wenig neugierig gemacht", antwortete ich kurz darauf. Letzteres war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber es war auch nicht ganz gelogen, "dann folge ich dir." Erst dann fiel mir auf, dass ich mich eigentlich gar nicht vorgestellt hatte, das konnte ich noch nachholen. Mit meinem Vornahmen würde sie sicher nicht viel anfangen können und sicher auch nicht darauf kommen, dass ich in Arizona zur Fahndung ausgeschrieben war. "Ich bin übrigens Rico. Wie heißt denn meine heutige Retterin?"

Ich wurde ziemlich verlegen, als der Fremde so verwundert reagierte. "Es ist nicht sonderlich bekannt, aber ich bin jedes Jahr dort", versuchte ich es mit einer Halbwahrheit. Es war ja nicht wirklich bekannt, und ich war wirklich jedes Jahr dort, auch wenn ich dabei unterschlug, dass ich das Camp auch nach dem Sommer nicht verließ. Mein Gegenüber schien grundsätzlich sehr misstrauisch zu sein, nachdem er auch über mein Angebot sehr lange nachdachte, und dank meiner Nervosität nahm ich jetzt einen ziemlich deutlichen Veilchengeruch an. Doch schließlich stimmte er zu, und ich gab mir Mühe, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. "Nur nicht wundern, es ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich", warnte ich ihn lieber einmal vor, denn um vom Strand zum Haupthaus zu kommen, mussten wir wirklich einmal durch das ganze Camp laufen, und es würde sich kaum vermeiden lassen, dass ihm dabei einige seltsame Dinge auffallen würden. "Ich bin Mara", beantwortete ich seine Frage. "Mara Rivers." Mir war aufgefallen, dass er mir nur seinen Vornamen nannte, und ich dachte mir, vielleicht würde es ihn ja beruhigen, von mir etwas mehr Informationen zu erhalten. Ich drehte mich um und stapfte los. "Ignorier die beiden, die streiten sich gerne", meinte ich, als wir an Runa und Yawarakai vorbeikamen, die immer noch hitzig am diskutieren waren.

-> Haupthaus, Veranda

"Hört sich cool an", antwortete ich ehrlich, doch gleichzeitig schweiften meine Gedanken wieder zu meinen leiblichen Eltern ab. Der Aufenthalt in einem Sommercamp war etwas, das so normal erschien, und gleichzeitig doch so fremd. Ob mich meine Eltern auch in ein Sommercamp geschickt hätten, wenn ich eine normale Familie gehabt hätte? Ich weiß gar nicht, wie sich das anfühlt, aber es wäre schön gewesen. Ich beneide sie ein bisschen darum... Dennoch versuchte ich, diese Gedanken schnell wieder zu verdrängen. Während wir uns unterhielten, änderte sich wieder der Geruch, der in der Luft lag. Dieses Mal konnte ich gar nicht so deutlich sagen, welche Blumen es waren, aber es war seltsam. Wie konnte es sein? Immer wieder redete ich mir ein, dass ich mir das nur einbildete, doch so recht konnte ich das auch nicht glauben. "Ungewöhnlich ist nicht schlecht. Meistens. Ich hab schon einiges Ungewöhnliches gesehen", antwortete ich dann überzeugt. Ich dachte nicht daran, dass es wirklich auf eine ganz besondere Art und Weise ungewöhnlich sein würde. Wortwörtlich. "Freut mich, dich kennen zu lernen", gab ich zurück, wobei mir allerdings auffiel, dass sie sogar ihren Nachnamen genannt hatte. Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung. Wir kamen dabei an zwei Personen vorbei, zwei junge Mädchen, wie es mir schien (Runa und Yawarakai), die hitzig diskutierten. Nach Maras Worten beschloss ich, das auch zu ignorieren, und folgte ihr weiter. Dabei ließ ich jedoch aufmerksam meinen Blick schweifen. Diesen Ort kannte ich immerhin noch nicht und das würde ich mir dann merken.

=> Haupthaus - Veranda

Sobald der Unterricht vorüber war und keine Aufgaben mehr anstanden, hatte ich mich verzogen und hatte mir einen ruhigen Ort gesucht. Der Strand war zum Glück groß genug und ich hatte eine bevorzugte Stelle, an welche ich immer wieder gerne herkam, um zur Ruhe zu kommen. Obwohl ich mich an den Campalltag gewöhnt hatte und zumindest mit meinen Halbgeschwistern zurecht kam, hatte ich nach wie vor das Gefühl, dass ich hier nicht sein sollte. Ich konnte jedoch auch nirgendwo anders hin und noch weniger wusste ich, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Das hier bot die beste Alternative und vermutlich auch die sicherste. Ich war schließlich an einer Felsgruppe angekommen, abseits vom Hauptteil des Strandes und auf einem der größeren Felsen nahm ich im Schneidersitz Platz. Die Hände auf meinen Knien abgelegt, schloss ich die Augen und fing das Meditieren an. Mein Umfeld nahm ich nur noch über meine anderen Sinne war, das Rauschen der Wellen, der Salzgeruch, der Wind auf meiner Haut. Ich kam allmählich zur Ruhe, verlangsamte meine Atmung und konzentrierte mich. Mir half das wahnsinnig, da ich von einer ständigen inneren Unruhe erfüllt war und mir diese Übungen halfen, diese besser zu kontrollieren. Außerdem nutzte ich die Meditation gerne, um mir meiner Fähigkeiten und meiner magischen Kraft besser bewusst zu werden und sie zu weiter zu beherrschen lernen.

Ich schlenderte entspannt den Strand entlang, bereits vorsorglich in Badehose, auf der Suche nach einem guten Platz, an dem ich mein Handtuch ausbreiten, mich etwas sonnen und ab und zu ins Meer tauchen konnte. Meistens fand man mich zwar am See, doch heute hatte ich Lust auf Salzwasser und Sand, und mich deswegen nach dem Unterricht auf den Weg hierher gemacht. Ich war bereits ein ganz schönes Stück gelaufen, weil ich es genoss, den Sand unter meinen bloßen Füßen zu spüren, als ich eine mir vertraut vorkommende Gestalt auf einem Felsen entdeckte. Neugierig kam ich näher, und tatsächlich, es handelte sich um Ren, der im Schneidersitz dasaß und zu meditieren schien. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, und möglichst leise trat ich näher. Ich hatte bisher nie groß mit Ren zu tun gehabt - außer in der Schlacht um Manhattan, als ich ihn betäubt und aus dem Gefecht gezogen hatte. Er war daraufhin ins Camp gekommen, hatte sich aber sehr zurückgezogen, und bisher hatte sich nie eine wirkliche Gelegenheit ergeben, mit ihm zu reden. Dafür kannte ich seine Träume, die ziemlich heftig waren, weswegen ich auch schon ab und zu unauffällig eingegriffen hatte, um sie etwas zu verschönern. Jetzt bot sich allerdings eine gute Chance, Ren auch außerhalb seiner Träume näher kennen zu lernen, und die würde ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Möglichst leise kletterte ich auf den großen Felsen, auf dem er saß und auf dem gerade noch genug Platz für mich war, setzte mich ebenfalls im Schneidersitz direkt vor ihm hin und beobachtete ihn einfach abwartend. Die Vorstellung, wie er die Augen aufschlagen und bei meinem Anblick erschrecken würde, trieb mir ein kleines, schelmisches Lächeln auf die Lippen.

Versunken in meinen Gedanken und konzentriert, hatte ich alles um mich herum ausgeblendet, sodass ich nicht einmal mehr das Rauschen der Wellen weiter wahr genommen hatte. Meine dadurch erlangte Ruhe währte jedoch nicht sonderlich lange, denn bald bekam ein äußerst unangenehmes Gefühl und als meine Augen wieder öffnete, fiel ich erstmal fast von dem Felsen, auf dem ich saß. Ich hatte mich gerade noch nach hinten mit den Armen abstützen können und funkelte den Jungen vor mir dann beinahe böse an, wobei das nicht wirklich gewollt von mir war. "Du bist es...", stellte ich dann wenig begeistert fest, als ich den Jungen vor mir erkannt hatte. Es war Cosimo aus der Hypnos-Hütte, wie ich während der Jahre hier in Erfahrung gebracht hatte. Das erste Mal, als wir uns begegnet waren, war es in der Schlacht von Manhattan gewesen, aber seitdem hatte ich nicht wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt. Ich war ihm auch aus dem Weg gegangen, wie vielen anderen. Aber die Kinder von Hypnos waren auf ihre ganz eigene Art und Weise gefährlich und vor ihnen hütete ich mich besonders gerne. "Was machst du hier?", wollte ich wissen, was sich im Nachhinein als blöde Frage herausstellte, denn nachdem er nur eine Badehose trug und ein Handtuch dabei hatte, war es offensichtlich, dass er wohl schwimmen gehen wollte.