Die Haare zurückgebunden und in Trainingskleidung, stand ich vor der Kletterwand und machte gerade noch ein paar Aufwärmübungen, bevor ich mich an den Kletterspaß machen würde. Zugegebenermaßen, als ich hier angekommen war und die Wand das erste Mal gesehen hatte, hatte ich mich schon gefragt, wer auf die Idee gekommen war, eine Kletterwand zu bauen, deren Mauern gegeneinander schlugen, Lava spuckte und Steine fallen ließ, wenn man nicht schnell genug oben war. Nicht zu vergessen, dass man auch Gefahr laufen konnte, von dem Ding zerquetscht zu werden. Wenn man also nicht aufpasste, konnte man einige unschöne Verletzungen davon tragen. Aber mit ein wenig Übung war das schon kaum eine Herausforderung mehr, aber weiterhin ein gutes Training. Ich trat dann also näher heran und stieg mit dem Fuß auf den ersten Vorsprung. Ich griff mit der Hand zu und zog mich dann hoch, wo ich geschickt immer weiter nach oben kletterte, hier und da einem Steinquader auswich, während ich der Kante immer näher kam.

Als ich bei der Kletterwand ankam, mich bereits auf mein tägliches Training freuend, entdeckte ich zu meinem Leidwesen, dass diese schon belegt war. Wobei von belegt sein nicht ganz die Rede sein konnte, immerhin gab es an der Wand genug Platz für mehrere, doch das Mädchen, dass da gerade kletterte, belegte meine Lieblingsroute. Neugierig beobachtete ich von unten, was das Mädchen trieb. Vom Sehen kannte ich sie auf jeden Fall, war mir aber sicher, noch nie mit ihr gesprochen zu haben. Das war so die Sache, wenn man nur im Sommer hier war, es war schwieriger, neue Bekanntschaften zu machen - nicht, dass ich darauf großen Wert legte. "Wenn du mit deiner rechten Hand ein paar Zentimeter weiter nach oben langst, ist dort ein Spalt, nimm den, da hast du besseren Halt!", rief ich ihr schließlich zu.

Es war weniger überraschend, dass sich neben mir hier noch jemand an der Kletterwand herumtrieb, schließlich war es ein doch recht beliebter Trainingsort, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich direkt angesprochen werden würde. Das brachte mich für den Moment aus meiner Konzentration, was zur Folge hatte, dass ich mit meinem Fuß abrutschte, mich aber weiterhin mit den Händen halten konnte, sodass ich nur für einen Augenblick mit meinem Fuß in der Luft baumelte, ehe ich wieder einen Vorsprung zum Stehen gefunden hatte. Ich warf nur einen kurzen Blick zu dem Mädchen hinunter, welches mir anscheinend zugerufen hatte. Aber nur kurz, denn immerhin hing ich gerade an einer Felswand, die Lava spuckte und Steine fallen ließ. Ihre Worte hatte ich gehört und den Spalt hatte ich schnell gefunden. Ich vertraute also ihrem Rat, fasste dort hin und zog mich weiter hoch. Mit einer flinken Bewegung wich ich noch einem fallenden Steinquader aus und zog mich dann den letzten Meter nach oben. Ich strich mir einige Strähnen aus dem Gesicht und sah nun zu dem Mädchen nach unten. "Danke für den Tipp, aber vielleicht solltest du das nächste Mal, jemanden der an einer Kletterwand mit Lava und fallenden Steinen hängt, nicht durcheinander bringen", rief ich von oben zu ihr herunter, aber man erkannte recht schnell, dass ich dennoch nicht nachtragend schien. Ein wenig war es ja vielleicht meine Schuld gewesen, dass ich mich habe ablenken lassen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich das Mädchen so leicht ablenken ließ, aber auch nicht wirklich ein schlechtes Gewissen deswegen. Mein Ratschlag war schließlich nur als Hilfe gedacht gewesen. Ich beobachte aufmerksam, wie sie weiter nach oben kletterte, wobei ich tatsächlich ein wenig beeindruckt war. "Vielleicht solltest du dich nicht so leicht durcheinander bringen lassen", rief ich ungerührt zurück. "Außerdem hätte mein Tipp dir im Nachhinein ja wohl nichts gebracht." Jetzt, wo meine Route frei war, machte ich mich ebenfalls daran, wobei ich erst einmal abwartete, dass die Steinwände aneinander prallten, bevor ich loslegte. Ich hangelte mich flink nach oben, wobei ich teilweise nur an einer Hand an einem Vorsprung hing und absichtlich in letzter Sekunde Lava und Steinen auswich, bis ich mich schließlich neben dem Mädchen hochschwang und mich auf die Wand setzte. "Ich bin übrigens Shenmi", stellte ich mich, jetzt auf Augenhöhe, vor.

Was für ein Glück, dass ich nicht nachtragend war, denn sie wirkte nicht so, als ob es ihr auch nur ansatzweise leid täte. Ich hatte mir immerhin schon eingestehen müssen, dass es eine vergleichsweise schwache Leistung war, mich überhaupt ablenken zu lassen, weshalb ich auch einfach mal meinen Mund hielt und nichts darauf sagte. Zumal sie durchaus Recht damit hatte, dass ihr Tipp wirklich nichts gebracht hätte, wenn sie gewartet hätte, bis ich oben gewesen wäre. Der Punkt stand dann wohl ihr zu. Stattdessen beobachtete ich allerdings nun ihren Aufstieg, der so ziemlich über die Route führte, die ich genommen hatte. Deshalb hatte sie wohl gewartet. Ich konnte allerdings gleich sehen, wie routiniert ihre Bewegungen schienen und allgemein wirkte sie sehr sicher dabei. Ich bezeichnete mich selbst als gute Kletterin, aber sie schien das zu toppen. Während ich ihr weiterhin mit aufmerksamen Augen folgte, fragte ich mich, ob sie bewusst bis zum letzten Moment wartete, um der Lava oder einem Stein auszuweichen. Ziemlich schnell war sie oben bei mir angelangt und stellte sich sogleich vor. "Ich bin Eliza, freut mich", stellte ich mich also ebenso vor und nickte ihr anerkennend zu. "Beeindruckende Kletterei, das muss ich schon sagen."

"Eliza", wiederholte ich und musterte sie neugierig. "Kind von wem?" Immerhin würde mir die Antwort Aufschluss über ihre Fähigkeiten und Interessensgebiete geben, zumindest schneller als es über ein Gespräch ginge. "Danke, das Klettern ist auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Du bist aber auch nicht schlecht", gab ich zurück. Vielleicht klang es ein wenig gönnerhaft, war aber von mir genauso gemeint, wie ich es sagte. Eliza war gut, wenn auch nicht so gut wie ich.

"Athene", antwortete ich, wobei das für die Leute, die bereits einige Zeit im Camp lebten, inzwischen recht offensichtlich waren, nachdem meine Geschwister und ich alle so ziemlich gleich aussahen. Aber ich sollte froh sein, nicht sofort in eine Schublade gesteckt zu werden, zumal man es als Blondine auch nicht immer ganz leicht hatte. "Also, Gegenfrage an dich", gab ich den Ball an Shenmi zurück. Ich hatte ihr meinen göttlichen Elternteil verraten, da wollte ich ihren nun auch gerne wissen. "Danke, schätze ich...", meinte ich aber dann auf ihr "Kompliment" hin, wenn es denn eines war, denn es schien ein Unterton dabei zu sein, der mir nicht ganz gefallen wollte. Doch ich würde mal nicht näher darauf eingehen. "Aber man merkt es dir an, dass du hier wohl ziemlich oft bist. Aber ich versteh dich. Klettern hat was."

Ich nickte. Athene ergab Sinn, sowohl von Elizas Aussehen her als auch wegen ihrer sportlichen Fähigkeiten. Es bedeutete außerdem, dass sie klug sein musste, was meine Motivation gleich erhöhte, hier zu sitzen und mich weiter mit ihr zu unterhalten. "Nemesis", beantwortete ich ihre Frage und beobachtete ihre Reaktion genau. Wir Nemesis-Kinder waren im Camp nicht unbedingt beliebt. Die Schlacht gegen Kronos war zwar bereits ein paar Jahre her, doch einige nahmen es uns immer noch übel, dass sich Nemesis, und mit ihr viele meiner Halbgeschwister, Kronos angeschlossen hatten. Ich selbst war nicht darunter gewesen. Zwar hatte ich meine Geschwister absolut verstanden, hätte es aber gegenüber dem, was das Camp, und vor allem Chiron, für mich getan hatten, als unfair empfunden, mich gegen sie zu stellen. Und ich wusste, dass meine Eltern darüber auch nicht glücklich gewesen wären. Ganz abgesehen davon galten Kinder der Nemesis auch nicht gerade als einfach, und ich stellte da keine Ausnahme dar. Bisher schien Eliza allerdings mit meiner Art zurecht zu kommen. "Stimmt", antwortete ich auf ihre Bemerkung. "Eigentlich jeden Tag, wenn nichts dazwischen kommt." Ich musterte sie genauer. "Wie lange bist du schon im Camp? Ich habe dich bereits öfter gesehen, aber nie mit dir gesprochen, wenn ich mich nicht täusche, und auch noch nie gegen dich gekämpft."

"Verstehe", war alles, was ich auf ihre Antwort bezüglich ihres göttlichen Elternteils erwiderte. Meine Miene war dabei unergründlich. Seit der Sache mit Kronos hatten einige Götter und Halbgötter einer eher schlechten Ruf, nachdem sie sich Kronos angeschlossen hatten. Ich konnte schlecht nachfühlen, wie es den Göttern und vor allem ihren nicht anerkannten Kindern gegangen sein musste, aber es wäre wohl auch nicht fair, anhand von sowas über andere vorschnell zu urteilen. Zumal Shenmi mir in den paar Minuten keinen Grund gegeben hat, das Gegenteil anzunehmen. Ich schmunzelte leicht, als sie meinte, dass sie noch nie mit mir gekämpft hätte. Das hatte ich auch noch nicht von vielen gehört. "Das glaube ich auch nicht", erwiderte ich dann, denn ich vergaß selten, mit wem ich mich unterhalten hatte oder auch gekämpft. "Seit fünf Jahren. Ich bin aber nur über den Sommer hier, den Rest des Jahres verbringe ich mit meiner Familie. Wie sieht's bei dir aus?"

In Elizas Miene lies sich nichts ablesen bei meiner Offenbarung, aber sie machte auch keine Anstalten, unser Gespräch zu beenden, also schien sie kein Problem damit zu haben. Das nahm mich ihr gegenüber gleich positiver ein, denn es zeigte, dass sie sich nicht von Vorurteilen leiten ließ, sondern lieber ihr eigenes Urteil fällte. "Hm, dann bist du gar nicht so viel kürzer hier", stellte ich fest. "Erstaunlich, dass wir uns erst jetzt über den Weg laufen. Ich bin seit sechs Jahren hier, aber auch nur jeden Sommer. Abgesehen von meinem ersten Jahr, das habe ich komplett im Camp verbracht." Damals war ich zu ängstlich gewesen, um nach Hause zurückzukehren, bis Chiron mich genug beruhigt hatte.

Ich wirkte durchaus ein wenig verwundert, als mir Shenmi erzählte, dass sie selbst schon seit sechs Jahren im Camp war. Unter diesen Umständen war es wirklich erstaunlich, dass wir uns bisher noch nicht wirklich über den Weg gelaufen waren geschweige uns unterhalten hatten. Allzu riesig war das Camp schließlich auch nicht. "Ich schätze aber, dass es hier einige Camper gibt, mit denen ich noch nicht sonderlich oft zu tun gehabt hatte", warf ich dann schließlich ein, bei einigen gingen die Interessen bestimmt weit auseinander oder man war oft mit seinen Geschwistern beisammen. Ich selbst verbrachte einen Großteil meiner Zeit in unserer Hütte oder auch mal der Kunsthandwerkstatt, wenn gerade kein Unterricht anstand. "Darf ich fragen, ob es dafür einen besonderen Grund gab?", wollte ich von ihr wissen, nachdem sie meinte, dass sie komplett ihr erstes Jahr hier im Camp verbracht hatte. Wenn sie sonst nur über den Sommer hier war, gab es wohl eher keine Probleme mit ihrer Familie.

"Bist du denn eher eine Einzelgängerin?", fragte ich direkt nach, denn bei Eliza klang es gerade ein wenig so, und ich sah keinen Grund, wieso ich nicht die Frage stellen sollte, die mir dabei durch den Kopf schoss. Wobei ich selbst ja nicht groß anders war, allerdings nicht, weil ich es bewusst herbeiführte, sondern weil andere mit meiner Art nicht unbedingt klar kamen. Was deren Problem war. Bei Elizas Frage lächelte ich leicht. "Fragen darfst du natürlich, und du bekommst sogar eine Antwort." Das Fragen würde ich sicher niemandem verbieten, wobei es bei mir tatsächlich auch wenig gab, worauf ich nicht antworten wollen würde. "Ich hatte am Anfang Sorge, dass meine Anwesenheit meine Familie in Gefahr bringen würde", erzählte ich also. "Aber Chiron hat mich schließlich davon überzeugt, dass es ausreicht, wenn ich etwas vorsichtiger bin und den Sommer über hier trainiere, nachdem ich nicht übermäßig mächtig bin."

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, eigentlich nicht", meinte ich mit einem schiefen Grinsen. Aber vielleicht hätte ein Aufeinandertreffen früher einfach nicht sein sollen. Ich dachte zwar sehr pragmatisch und logisch, aber manche Dinge konnte man sich eben einfach nicht erklären, vor allem in der Welt der Götter. Auf meine Frage antwortete mir Shenmi sodann auch, auch wenn es für mich in Ordnung gewesen wäre, wenn nicht, sofern ich ein sensibles Thema angeschnitten hätte. Bei Halbgöttern war die Wahrscheinlichkeit dafür immer sehr hoch, dass jemanden etwas Schlimmes in der Vergangenheit widerfahren war. Ich wusste Shenmis Offenheit damit auch durchaus zu schätzen. Verstehend nickte ich sodann auf ihre Worte hin. "Verstehe, das ist natürlich nachvollziehbar. Es besteht immer die Gefahr, seine Familie in Schwierigkeiten zu bringen. Dann muss dir deine Familie wohl wirklich wichtig sein, hm?", fragte ich nicht und musterte sie mit einem leichten Lächeln.

Ich lächelte leicht. "Tja, dann haben wir uns wohl einfach nur gut voreinander versteckt. Wobei ich mich selbst durchaus eher als Einzelgängerin bezeichnen würde." Zumindest, wenn man nach den Fakten ging, dass ich nun einmal oft alleine war und es jetzt auch nicht unbedingt auf Gesellschaft anlegte. Nachdem ich Elizas Frage beantwortet hatte, war ich der Meinung, dass sie mir nun ebenfalls eine geben konnte, und stellte meine Frage deswegen ganz unumwunden: "Und wie ist das bei dir? Als Tochter der Athene bist du ja nicht ganz ohne, da ist es für dich doch sicher nicht einfach außerhalb vom Camp, und bei deiner Familie." Was das anging, war ich tatsächlich ziemlich froh, nicht allzu mächtig zu sein. Auf Elizas Frage hin zuckte ich mit den Schultern. "Natürlich, es ist meine Familie", gab ich nur als Antwort zurück, wobei ich deutlich herunterspielte, wie viel meine Familie mir eigentlich bedeutete. Aber über Gefühle zu reden, war einfach nicht so mein Ding.