Ich hatte etwas Ruhe und Zeit für mich gebraucht, und deswegen den Hügel bestiegen, an dem der Baum mit dem Goldenen Vlies hing. Ich mochte den Ort, denn von hier aus konnte man das gesamte Camp überblicken, und das Vlies, dieses Stück leibhaftige Legende, versetzte mich jedes Mal wieder in Staunen. Zwar war es recht untypisch für mich, nicht die Gesellschaft anderer zu suchen, doch seit ich hier war, war schließlich einiges nicht mehr wie sonst. Ich setzte mich etwas abseits des Baumes hin, um den Drachen, der das Vlies bewachte, nicht zu stören, und ließ meinen Blick nachdenklich über die Landschaft schweifen. Hier hatte Runa also die ganzen Jahre, die ich sie gesucht hatte, verbracht, und hier war sie zu einer jungen Frau herangewachsen, die ich kaum wiedererkannte. Ich seufzte, und mein Gesicht nahm einen traurigen, leicht verlorenen Ausdruck an. Ich wusste tatsächlich nicht, was ich hier sollte. Es war offensichtlich, dass Runa mich nicht brauchte, und ich passte hier nicht rein. Die meisten hier waren jünger als ich, oder bereits seit Jahren im Camp, und ich fühlte mich wie ein Fremdkörper. Selbst zu meiner Schwester gehörte ich nicht mehr.

Am Abend zuvor hatte ich es leider nicht mehr geschafft, mich mit Lucas zu unterhalten und nach dem Essen und dem folgenden Rundgesang war ich mit den anderen Jägerinnen in die Artemis-Hütte gegangen, um mich schlafen zu legen. Am nächsten Tag hatte Lucas ja leider Unterricht, also musste ich bis danach warten, ob ich ihn vielleicht antreffen konnte, wenn ich ihm in der Zwischenzeit nicht über den Weg lief. Aber er war ja auch immer mit anderen unterwegs und selbst wenn es meine Halbgeschwister waren, hatte ich nicht den richtigen Zeitpunkt und den Mut gefunden. Aber selbst mit meinen Halbgeschwistern hatte ich keine sonderlich gute Bindung, weshalb ich immer ein wenig zurückhaltend in ihrer Nähe war und mich eher schon unwohl fühlte.
Ein wenig resigniert war ich also - mal wieder - alleine durch das Camp gewandert und war dann irgendwann nach Half-Blood hinaufgestiegen, auf welchem Thalias Fichte stand. Nachdem Thalia auch zu Artemis' Jägerinnen gehörte, kannte ich ein wenig ihre Geschichte und hatte auch schon davon gehört, dass sie vor Jahren von ihrem Vater Zeus in diese Fichte verwandelt worden war. Nachdem einige Halbgötter das Goldene Vlies geborgen hatten, um die Fichte, die vergiftet worden war, zu retten, war durch die Magie des Vlies auch Thalia wieder zurückgekehrt und hatte sich später Artemis' Jägerinnen angeschlossen und wurde dort Leutnant. Das magische Vlies war immer noch am Baum, welcher von dem Drachen Peleus bewacht wurde.
Ich hatte eigentlich erwartet, alleine hier zu sein, aber dem war nicht so. Ich erkannte ein Mädchen, wobei es junge Frau wohl eher treffen würde, die mir aber völlig unbekannt war. Nachdem ich aber nur selten hier im Camp war, seit ich mich Artemis angeschlossen hatte, kannte ich sowieso kaum jemanden der Campbewohner. Mir fiel auf, dass sie im Vergleich zu anderen Halbgöttern älter wirkte, was mich überraschte. Ich hatte nämlich gehört, dass nicht viele Halbgötter bis ins Erwachsenenalter kamen. Was mir allerdings umso mehr auffiel, war ihre Haltung und die Traurigkeit, die sie ausstrahlte. Woher ich das wusste? Ich selbst hatte mich lange so gefühlt. Ich hatte mich hier im Camp nie Zuhause gefühlt und auch nicht so, als ob ich tatsächlich hierher gehören würde. Ich spürte Mitleid in mir aufwallen und näherte mich vorsichtig dem Mädchen, wobei ich es mir in meiner Zeit als Jägerin angewöhnt hatte, so leise wie möglich aufzutreten, um kein Geräusch zu verursachen. "Ähm... Hallo", sprach ich das Mädchen schließlich ein wenig zögerlich an und versuchte mich an einem freundlichen Lächeln.

Ich war so sehr in meine Gedanken vertieft, und außerdem unachtsamer als sonst aufgrund der relativen Sicherheit im Camp, dass ich nicht merkte, wie sich mir jemand näherte. Dementsprechend zuckte ich leicht zusammen, als ich angesprochen wurde, und blickte überrascht auf. Vor mir stand ein junges Mädchen, vielleicht in Runas Alter, die schüchtern lächelte. "Hallo", gab ich etwas verwirrt zurück. "Ähm... Kann ich dir irgendwie helfen?" Vielleicht brauchte das Mädchen ja was, und hatte mich deswegen angesprochen. Oder es gab irgendein Problem damit, dass ich hier saß, ich kannte ja längst noch nicht alle Regeln im Camp.

"Oh... Ähm...", stammelte ich unbeholfen herum und wurde ein wenig verlegen, denn ich hatte mir nicht wirklich überlegt, wie es weitergehen sollte. Jetzt stand ich damit wohl ziemlich blöd da, aber schüttelte dann den Kopf, um meine Gedanken wieder frei zu bekommen. In den letzten eineinhalb Jahren war ich wieder offener geworden und auch wenn ich nach wie vor meine Probleme hatte, wollte ich mich nicht so sehr von meinen Ängsten kontrollieren lassen. Zumal das Mädchen nicht so wirkte, als ob ich mich vor ihr zu fürchten brauchte. Da gab es einige wesentlich unangenehmere Persönlichkeiten im Camp. "Ähm, nein... Das wollte ich eigentlich dich fragen. Du wirkst traurig", brachte ich schließlich mit zurückhaltender Stimme hervor, schien meine Füße dann jedoch interessanter zu finden, während ich jedoch immer wieder kurz zu ihr hochschielte. Sowas lag mir eigentlich nicht sonderlich, aber als es mir damals so ergangen war, war ich am Ende unglaublich froh gewesen, dass mich jemand angesprochen hatte und sie wirkte so, als ob sie vielleicht jemandem zu Reden oder zumindest zum Zuhören brauchen könnte.

Zu meiner Überraschung schien meine Frage das Mädchen verlegen zu machen. Aufmerksam musterte ich sie, gespannt darauf, was jetzt kommen würde. Ihre Antwort entlockte dafür mir ein verlegenes Lachen, und ich fuhr mir fahrig durch die Haare. "Ist mir das so deutlich anzusehen?", fragte ich sie, obwohl sie mir die Antwort darauf ja eigentlich schon gegeben hatte. Ich seufzte und blickte wieder zum Camp. "Es ist nur... Ich bin vor Kurzem erst hier angekommen, und habe das Gefühl, nicht wirklich hineinzupassen, obwohl das doch angeblich der Ort für Leute wie mich ist. Und ich hab jahrelang nach meiner kleinen Schwester gesucht, dann komme ich hierher, und sie war die ganze Zeit über hier und braucht mich nicht mehr. Ich schätze, ich fühle mich etwas verloren..." Beim letzten Satz war meine Stimme leiser geworden, doch dann straffte ich die Schultern und setzte mich aufrechter hin. "Aber das ist nichts, mit dem ich nicht fertig werden würde", verkündete ich und wandte mich wieder dem Mädchen zu. "Wie heißt du eigentlich?", fragte ich sie, denn nachdem ich sie vollgeheult und sie so nett zugehört hatte, sollte ich wohl zumindest ihren Namen kennen.

Anscheinend hatte ich sie damit nicht verärgert, was mich schon mal ein wenig erleichterte. Leicht nickte ich nur, als sie fragte, ob man es ihr so leicht ansehen. Zumindest war es für mich ziemlich eindeutig gewesen, aber sowas erkannte man auch schneller, wenn man diesen Blick selbst tagelang bei sich selbst im Spiegel gesehen hatte. Kurz darauf erzählte sie mir auch schon ihre Geschichte und da ich es doof fand, weiter zu stehen, setzte ich mich auf das Gras neben sie, allerdings mit einem gewissen Abstand. Wenn sie mir schon so offen von sich erzählte, würde ich auch geduldig zuhören. Wobei mir schnell bewusst wurde, wie sehr mich das Ganze berührte und ich es nachvollziehen konnte, da es mich so sehr an mich selbst erinnerte. Sie hatte also eine kleine Schwester, nach der sie wohl schon länger gesucht hatte und hatte sie hier im Camp gefunden. Es war nicht dasselbe, aber nachdem ich jahrelang immer mit Lucas zusammen gewesen war, war es komisch, das nicht mehr zu sein. Aber ich hatte mich aus freien Stücken dazu entschlossen, denn es hätte weder für ihn noch für mich so weitergehen können, wie es war, bevor ich mich Artemis angeschlossen hatte. Ich sah sie allerdings überrascht an, als sie behauptete, damit fertig werden zu können. Ich konnte in dem Moment nicht anders, als die dafür zu bewundern. Dennoch... "Ich kenne dieses Gefühl auch. Sich verloren zu fühlen und auch, nicht hierher zu gehören. Obwohl man hier Familie hat und es Leute gibt, die einen aufnehmen, fühlt es sich einfach nicht richtig an. Selbst wenn man möchte, kann man sich hier nicht einleben", gestand ich schließlich, hatte den Kopf aber gesenkt gehalten. Dahinter steckte noch ein wenig mehr, aber das konnte ich Fremden nicht erzählen, auch wenn sie nett schien. Aber ich teilte zumindest bis zu einem gewissen Teil ihre Gefühle. "Ich bin Lucy. Wie heißt du?", stellte ich mich mit folgender Gegenfrage dann vor.

Ich war ein wenig überrascht davon, wie viel Abstand das Mädchen zwischen uns ließ, als sie sich neben mich setzte, sagte aber nichts dazu. Wenn sie sich bei zu viel Nähe zu anderen unwohl fühlte, stand es mir wohl kaum zu, das zu kommentieren oder ihr etwas aufzuzwingen. Ebenfalls überrascht war ich, als sie meinte, das Gefühl zu kennen, dabei wirkte sie so, als wäre sie schon länger hier und würde sich auskennen. Ihr war zumindest nicht dieselbe Unsicherheit anzumerken, die ich mit mir herum trug. "Und wie hast du das gelöst?", fragte ich sie deswegen neugierig. "Fia, Tochter der Hekate", stellte ich mich dann ebenfalls vor, wobei bei dem Namen meiner Mutter ein gewisser Stolz aus meiner Stimme klang. "Meine Schwester ist Runa, falls du sie kennst." Den letzten Teil fügte ich nur an, weil ich neugierig war. Immerhin waren Lucy und Runa im selben Alter, und Runa war schon ziemlich lange hier, also kannte Lucy sie vielleicht tatsächlich und konnte mir nochmal einen anderen Einblick in das Leben meiner Schwester geben.

Ich hielt den Blick immer noch gesenkt, spielte derweil an meinem Armband herum. "Ich... Ich habe mich den Jägerinnen der Artemis angeschlossen", antwortete ich ihr schließlich, hatte dazu aber dann doch wieder den Kopf gehoben, um sie ansehen zu können. Obwohl in meinem Blick bestimmt ein wenig Traurigkeit zu erkennen war, vermittelte ich nicht den Eindruck, dass ich es bereute. Der Ausdruck in meinen Augen rührte von anderen Gefühlen her, aber meine Entscheidung, eine Jägerin Artemis' zu werden, war die beste, die ich für mich hatte treffen können. Es hat seine Zeit gedauert und ich war zu mancher Zeit immer noch leicht verunsichert, aber ich fühlte mich mit bei den Jägerinnen sehr wohl. Sie stellte sich sodann als Fia vor, eine Tochter Hekates. Ich wusste nicht sehr viel mehr über Hekate, als dass sie die Göttin der Magie war und ihre Kinder ebenso dazu fähig waren, Magie auszuüben. Ich schüttelte dann allerdings den Kopf, als sie mir sagte, wie ihre Schwester hieß. "Tut mir leid, aber der Name sagt mir nichts. Mit den anderen Campern habe ich nicht sonderlich viel zu tun", erklärte ich ihr mit verlegener Stimme. Wir Jägerinnen waren nicht so oft im Camp und dann auch nicht sonderlich lange, die meiste Zeit waren wir eben auf der Jagd. Und in meiner Zeit davor, als ich im Camp gelebt hatte, hatte ich nach Lucas den meisten Kontakt zu meinen Halbgeschwistern und selbst der war eher spärlich. Einige der bekannteren Namen von Campbewohnern wusste ich durchaus, aber waren das eher die, vor denen man sich lieber in Acht nahm oder weil sie irgendeine wichtige Rolle gespielt hatten.

"Den Jägerinnen der Artemis?", wiederholte ich fragend. "Die gibt es auch wirklich?" Meine Jahre unterwegs hatten zwar dafür gesorgt, dass ich mich mit meinen eigenen Fähigkeiten inzwischen zwar hervorragend auskannte, alles andere war für mich aber sehr neu und teilweise rätselhaft. "Und wie ist es da so?", fragte ich deswegen neugierig nach. Ich konnte mich nur an ein paar Geschichten über die Göttin der Jagd erinnern, die Jungfrauen um sich sammelte, um gemeinsam durch die Wälder zu reiten. "Ist auch nicht so wichtig, man kann ja nicht jeden kennen", winkte ich ab, auch wenn ich doch ein wenig enttäuscht war. Vielleicht sollte ich einmal vorsichtig bei den anderen Hekate-Kindern nachforschen... Wobei Runa darüber sicher nicht begeistert wäre, aber sie redete ja auch nicht wirklich selbst mit mir.

Ich nickte daraufhin nur, sagte dazu nichts. Sie wirkte ein wenig überrascht, als sie von den Jägerinnen hörte, aber ich hatte von ihnen auch nichts gehört, bis sie das erste Mal im Camp aufgetaucht waren. Allgemein hatte ich wenig von dieser anderen Welt gewusst, ehe unser Vater uns anerkannt hatte und wir ins Camp gekommen waren. "Mir gefällt es dort gut. Es war schwierig, sich an das Leben zu gewöhnen, immerhin reisen sie durch die ganze Welt und jagen allerhand Monster, aber ich fühle mich wohl." Für mich war es schon ein großer Pluspunkt, dass es dort nur Mädchen gab, was auch zu den Gründen gehört hatte, aus denen ich mich den Jägerinnen angeschlossen hatte. Aber auch wenn ich gebraucht hatte, bis ich mich dort einigermaßen eingelebt hatte, war es mir nicht so schwer gefallen wie im Camp. Mein Kopf wusste zwar, dass die meisten hier keine bösen Absichten hegten, aber Angst war etwas irrationales und ich konnte meine nicht kontrollieren. Sie versicherte mir zwar, dass es nicht schlimm wäre, dass ich ihre Schwester nicht kannte, aber ich hatte das Gefühl, dass sie sich etwas anderes erhofft hatte und mit meiner Antwort nicht ganz zufrieden war. Verunsichert biss ich mir auf die Lippe. "Du meintest, deine Schwester braucht dich nicht mehr... Wie meinst du das denn?", fragte ich zaghaft nach. Wenn ich Lucas jahrelang nicht gesehen hätte und plötzlich wieder mit ihm vereint wäre, dann wäre ich bestimmt überglücklich.

"Durch die Welt zu reisen und Monster zu jagen, klingt eigentlich nach einem sehr spannenden Leben", überlegte ich laut. Immerhin war ich es gewohnt, viel unterwegs zu sein, und es machte mich doch etwas unruhig, inzwischen am Ziel meiner Reise angekommen zu sein, ohne einen Zielort, an den es als nächstes ging. "Ich wäre ja fast versucht, mich anzuschließen, nur fürchte ich, dass ich die Aufnahmebedingungen eher nicht erfüllen werde", meinte ich scherzend, wobei dahinter mehr Ernsthaftigkeit steckte, als man mir anhören konnte. Die Verlockung war auf jeden Fall da, nur war ich leider keine Jungfrau mehr. Mir fiel auf, dass Lucy verunsichert wirkte, und bei ihrer Frage wurde mir deutlich, wieso. Vermutlich fiel es ihr schwer, eine so persönliche Frage zu stellen, nur schien ihre Hilfsbereitschaft zu überwiegen. Ich seufzte. "Naja, sie scheint hier ihr Zuhause gefunden zu haben. Sie hat Freundinnen und Geschwister, sie fühlt sich hier wohl, und sie arbeitet an ihren Fähigkeiten. Früher habe ich immer auf sie aufgepasst, doch das kann sie inzwischen sehr gut alleine. Und das kleine Mädchen, das ich kannte, scheint nicht mehr vorhanden zu sein. Früher war sie so lieb und aufgeweckt und neugierig, und jetzt..." Ich verstummte.

"Spannend ist das richtige Wort, ja", gab ich zu Bedenken, schmunzelte leicht für einen Moment. Früher hätte ich mir das nie vorstellen können. Als ich neu ins Camp gekommen war, hatte ich nie gedacht, dass ich tatsächlich Spaß daran haben könnte, mich mit Monstern anzulegen. Ich war verängstigt und verunsichert gewesen, habe den Unterricht nur ungerne besucht, insbesondere das Kampftraining. Mit den Jägerinnen hatte sich das jedoch geändert und fühlte mich dort sowohl frei als auch am Leben. Ich hatte Fia schon fragen wollen, was sie damit meinte, dass sie Aufnahmebedingungen nicht erfüllen würde, als ich verstand, was sie damit meinte und ich daraufhin rot anlief und das Gras vor meinen Füßen wieder wesentlich interessanter zu finden schien. Ich hegte keinerlei Interesse an sowas, das hatte ich auch schwören müssen, was mir nicht schwer gefallen war, es war mir einfach nur peinlich und unangenehm. "A-Also, ich denke, dass das kein Ausschlussgrund ist, falls du tatsächlich Interesse haben solltest. Bestimmt könntest du auch mit Artemis reden", meinte ich schließlich, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte. Ich wollte sie keinesfalls dazu überreden, sich den Jägerinnen anzuschließen, aber wenn sie es wirklich in Betracht zog, würde Artemis sie bestimmt zumindest anhören. Fia beantwortete mir meine Frage schließlich und im selben Moment bekam ich ein schlechtes Gewissen, immerhin war es eine doch sehr persönliche Frage. "Tut mir leid... Ich wollte dir nicht zu nahe treten", meinte ich deswegen auch. Unwillkürlich musste ich fragen, ob es Lucas nicht auch so ging, denn er hat sich immer um mich gekümmert, aber ich hatte beschlossen, ihn von dieser Last zu befreien.

Lucy kam mir zwar auf den ersten Blick nicht wie jemand vor, die Spaß daran hatte, Monster zu jagen, doch ihr Schmunzeln zeigte zumindest, dass sie sich in diesem Leben durchaus wohl fühlte. Es brauchte eine Weile, bis Lucy zu dämmern schien, worauf ich anspielte, doch dann wurde sie sehr süß rot. Gut, sie war auch noch ziemlich jung und unerfahren, also war ich nicht überrascht, konnte mir aber ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. "Ach nein? Hmm, da hat die Mythologie wohl gelogen", stellte ich fest. "Wie sieht es mit allem anderen aus? Dem Schwur, keine Beziehungen mehr mit Männern zu führen und dergleichen?" Nicht, dass es ein großes Problem für mich wäre, darauf zu verzichten, denn eine ernsthafte Beziehung hatte ich noch nie gehabt, und das Körperliche war für mich immer nur Ablenkung und ein wenig Vergnügen gewesen, ehe ich mich wieder auf meine eigentlichen Ziele konzentriert hatte. Männer waren zwar nett, taugten aber nicht als ernstzunehmende Partner. Meiner Meinung nach war man als alleinstehende Frau besser dran, als mit so einem Klotz am Bein. "Ich soll einfach so eine Göttin ansprechen?", fragte ich mit großen Augen. Klar, vermutlich war Lucy mit Artemis praktisch per Du, aber es kam mir doch sehr gewagt vor. "Es ist alles in Ordnung, hätte ich ein Problem mit deiner Frage gehabt, hätte ich nicht geantwortet", beruhigte ich sie.

Da ich immer noch das Gras betrachtete, entging mir Fias Lächeln auf meine peinlich berührte Reaktion. Womöglich hätte es aber nur die Röte in meinem Gesicht vertieft. "Na ja, jedes Mädchen kann den Jägerinnen beitreten, wenn man Artemis die Treue schwört und sich dann nicht mehr auf Beziehungen einlässt", entgegnete ich Fia, was wohl auch die halbe Antwort auf ihre andere Frage war. Ich war noch nicht so lange dabei, aber ich konnte es mir nicht vorstellen, dass Artemis jemanden ablehnte, wenn diese wirklich gewillt war, sich ihren Jägerinnen anzuschließen. "Ich habe den Eid vor eineinhalb Jahren auch abgelegt. Ich habe Loyalität gegenüber Artemis geschworen und mit niemandem eine Beziehung einzugehen." Manchmal kam es mir noch ein wenig unwirklich vor, dass das schon über ein Jahr her sein soll. Es fühlte sich an, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen, aber wenn man unterwegs auf Monsterjagd war, dann war das vielleicht auch ganz normal. Womöglich würde es mir erst in ein paar Jahren wirklich bewusst werden, was es bedeutete, unsterblich zu sein. Nicht mehr zu wachsen. Nicht mehr zu altern. Zumindest körperlich nicht mehr. "Ähm, d-das wohl eher nicht, n-nein. Aber, wenn du möchtest, dann könnte ich dir helfen", bot ich an, denn ich konnte sie nur zu gut verstehen, wenn es einem nicht so leicht fiel, eine Göttin anzusprechen. Wenn mich nicht die Jägerinnen angesprochen hätten, hätte ich mich es von selbst wahrscheinlich gar nicht getraut. Aber aus diesem Grund bot ich Fia gerne an, ein wenig zu vermitteln, falls sie wollte. "Also, nur falls du wirklich Interesse haben solltest. Nicht, dass du denkst, ich möchte dich anwerben oder so! Ich dachte nur... Na ja... Falls du es tatsächlich in Erwägung ziehen solltest...", versuchte ich mich dann irgendwie zu rechtfertigen, wobei ich reichlich oft über meine eigenen Sätze und Worte stolperte. Einige der anderen Jägerinnen waren da wesentlich... Ähm, eindringlicher und warben nur zu gerne Mädchen für die Jägerinnen an. Mir lag das nicht so, wobei ich verstehen konnte, warum manche das taten. Es beruhigte mich allerdings tatsächlich, dass ich Fia mit meiner Fragerei nicht zu nahe getreten war und nickte erleichtert.